THE MEN WHO FELL FROM THE SKY

von Peter Stohler

Die Berliner Künstlerin Karen Stuke verwendet seit 1994 eine Camera obscura, eine selbstgefertigte Lochkamera.
Das Interesse an der Camera obscura geht zurück auf ihre Beschäftigung mit der Welt der Oper und des Theaters, die sie seit ihrem Studium in Bielefeld auch mit konventioneller Aufnahmetechnik dokumentiert.
Für die Reihe „Opera Obscura“ hat sie lange Operninszenierungen in einer einzigen Aufnahme als mehrstündige Belichtung festgehalten. Dieser Vorgang setzt zwingend das belichten auf ein Negativ voraus. Die Aufnahme ist daher vom Ansatz her dokumentarisch, vom Resultat her aber verfremdet, da mittels der Aufnahmetechnik ein künstlerisch, eigenständiger Blick auf die Inszenierung geworfen wird.

Die Unschärfe ist auch Teil anderer Bildreihen. Für „Sleeping Sister“ (seit 2001) hat sie sich schlafend über die ganze Nacht fotografiert. Die nächtlichen Bewegungen der Schlafenden bewirken eine geisterhafte Unschärfe. Bei „Austerlitz“ (2013), entstanden für den Londoner Ausstellungsraum „The Wapping Project“ und benannt nach dem gleichnamigen Roman von W.G. Sebald, setzt Stuke wiederum das Stilmittel der Unschärfe ein. Hier korrespondiert sie mit der Erinnerung, die in Sebalds Roman über die Transporte von jüdischen Kindern 1938/39 von Prag nach London nach und nach aufscheint.

Männer, die beim Landeanflug aus einem Flugzeug fallen: Was zuerst nach einer reißerischen Zeitungsmeldung klingt, dem geht Stuke mit künstlerischen Mitteln nach. Die Unschärfe ist Teil des mehrjährigen Projekts „The Men who fell from Sky“, das 2014 begonnen wurde und die Künstlerin bis heute begleitet. Stuke fährt zu den Anflugschneisen des Londoner Flughafens Heathrow, wo seit Jahrzehnten immer wieder Menschen – es sind zumeist junge Männer aus dem globalen Süden – aus dem Fahrwerkschacht herausfallen.
Akribisch hat Karen Stuke einzelne Schicksale recherchiert und diese fotografisch nachgezeichnet.
So fotografiert sie Flugzeuge, die über den Himmel Londons ziehen. Die Bilder sind nicht wirklich dokumentarisch, ja, sie könnten es gar nicht sein. Denn im Moment des schrecklichen Ereignisses war die Künstlerin ja nicht dabei, sondern hat das Bild nachträglich aufgenommen. Dabei ist es ihr jedoch wichtig, dass sie die richtigen Flugzeugtypen mit den richtigen Flugnummern festhält. Half fiction, half fact.

Die Schicksale der Männer, die aus den Flugzeugen fallen, interessieren die Fotokünstlerin, weil sie die Verzweiflung nachspüren, diese quasi nachvollziehen will, die die Männer empfunden haben müssen, bevor sie sich auf die lebensgefährliche Reise begaben. Doch Stuke Vorgehensweise, nicht nur die Flugzeuge festzuhalten, sondern auch die Originalschauplätze wie Straßen, Gehsteige oder ein frischzugeschüttetes Grab aufzusuchen, wird durch den Einsatz der Unschärfe nicht zur vorgeführten Sensationsmeldung, die unseren Voyeurismus bedient. Vielmehr geht es bei ihrer künstlerischen Rekonstruktion um respektvolle Distanzierung, die Einfühlung ermöglicht.

Peter Stohler, Grimmwelt, Kassel.
Aus der Publikation: „Storytelling“