Die dunkle Kammer

#stayathome. Die dunkle Kammer in der Karl-Marx-Allee
von Marc Peschke


Die Technik der Camera obscura, der Dunklen Kammer, schon im 4. Jahrhundert vor Christus von Aristoteles beschrieben, im Mittelalter von Astronomen genutzt und von Leonardo da Vinci weiter erforscht, ist bis heute immer wieder auch die Technik fotokünstlerischer Arbeiten. Eine besondere Serie hat Karen Stuke nun mit #stayathome geschaffen und ihre eigene Wohnung in eine Camera obscura verwandelt.



Für viele kommt die Zeit der Pandemie und der Lockdowns einer Verdunkelung gleich. Die Abschottung, die soziale Distanz, stellt das Leben auf den Kopf, macht es düsterer, doch in gewisser Weise auch konzentrierter. Deshalb, so könnte man sagen, ist das fotografische Bild einer Camera obscura ein Sinnbild für die Gegenwart.
Karen Stuke, die schon seit 1994 mit der Technik der Camera obscura arbeitet und viele Ausstellungen im In- und Ausland realisierte, hat die seit der Antike bekannte Idee der Dunklen Kammer, der Lochkamera, nun noch einmal weiterentwickelt und die verschiedenen Zimmer ihrer Wohnung in der Berliner Karl-Marx-Alle in eine Camera obscura verwandelt. Durch winzige Löcher in den mit Pappe abgedunkelten Fenstern flutet die Welt von draußen hinein. Die denkmalgeschützte sozialistische Architektur der Karl-Marx-Allee wird auf den Kopf gestellt: eine Metapher für die menschliche Wahrnehmung selbst, doch in den Zeiten der Pandemie noch etwas anderes, nämlich Symbol für Konzentration und Fokussierung.

#stayathome heißt diese Arbeit, die Stuke beim Vonovia-Award eingereicht hat, wo sie auf der Shortlist Beste Fotoserie geführt wird.



Karen Stuke, die an der FH Bielefeld bei Gottfried Jäger und Jürgen Heinemann studiert hat, viel als Theaterfotografin arbeitet und in Berlin den Projektraum Kronenboden betreibt, sagt über die Arbeit: „Die Welt da draußen steht Kopf, die eigenen vier Wände bilden die Konstante. In Selbstisolation befindend, sitze ich in der vertrauten Wohnung, die Welt draußen betrachtend. Durch die ungewohnte und doch bekannte Sehweise wird das eigene Umfeld neu entdeckt und überdacht.“
Für #stayathome verpackte Stuke alles in ihrer Wohnung weiß: Gegenstände, Möbel, vieles wurde in Toilettenpapier gewickelt, Gläser in der Küche mit Mehl gefüllt, ein weißes Heim geschaffen, doch nicht nur wegen des visuellen Aspekts der besseren Abbildung der Außenwelt: Das kuriose Hamstern von Toilettenpapier kam ihr dabei auch in den Sinn.



#stayathome ist eine Serie, der ein starkes Konzept zugrunde liegt, die aber auch in ihrer visuellen Anmutung überzeugt. Die Welt da draußen in die Wohnung zu spiegeln. Durch Licht, das durch ein kleines Loch in einen dunklen Raum fällt. Den strahlend blauen Himmel in die eigenen vier Wände holen. Ein auf dem Kopf stehendes Bild generieren. Die Isolation aufbrechen. Aus der Limitierung ein Maximum an Bewusstwerdung und Aufmerksamkeit herausholen – das alles steckt in dieser Arbeit. Norbert Wiesneth von Photowerk Berlin hat sie als „inneren Reinigungsprozess“ beschrieben: „Ein Nullpunkt ist erreicht, von dem aus sich die Künstlerin wieder neu orientieren kann.“
Karen Stuke wurde mit ihrer Arbeit #stayathome als Finalistin des Vonovia Awards für Fotografie 2020 ausgewählt, der von dem internationalen Immobilienkonzern Vonovia veranstaltet wird. Was nicht unerwähnt bleiben sollte: Die Wohnung, in der Stuke ihre Arbeit realisierte, ist eine jener Immobilien in der Karl-Marx-Allee, die 2018 die Deutsche Wohnen-Gruppe kaufen wollte – was verhindert wurde, indem die Stadt Berlin die Wohnungen erwarb. Als Einreichung zum gut dotierten Wettbewerb bei der Vonovia steht die Serie also auch für eine wichtige soziale Forderung: die Forderung nämlich, dass Wohnraum bezahlbar bleiben sollte.

Marc Peschke, fotoforum 2/2021