Warum Camera obscura?

von Anna Gripp

Dass die Camera obscura mehr ist als der historische Vorläufer des Fotoapparates und beliebtes Lehrmittel in der Fotopädagogik, zeigen bis heute etliche Bilderbücher, die mit Camera obscurae unterschiedlichster Bauweise eigenständige Werke schaffen. In Deutschland gehört Karen Stuke zu den bekanntesten Vertreterinnen dieser Fotografie. 1999 schloß sie ihr Studium an der Fachhochschule Bielefeld mit einem Diplom über Theaterfotografie bei Gottfried Jäger ab. Bis heute arbeitet sie als freie Fotografin für verschiedenen Theater, Regisseure und Bühnenbildner und realisiert parallel freie Projektre mit der Camera obscura. Ihr Projekt „Auf den Spuren von Sebald Austerlitz“ ist aktuell in Berlin zu sehen.

Anna Gripp/Photonews:
Wann und wie war Deine erste Erfahrung mit einer Camera obscura?

Karen Stuke:
Schon zu Anfang meines Studiums an der FH Bielefelder ich am Theater und Regiehospitantin unterwegs. Damals fragte ich mich bereits, ob es eigentlich das perfekte Theaterfotogäbe, da alle etwas anders wollen: Der Regisseur möchte seine Idee umgesetzt haben, der Bühnenbildner hätte am liebsten immer eine Totale, die Pressereferentin den Hauptdarsteller und die Sopranistin möchte am liebsten gut aussehen.
Als es dann 1993 an der Fh einen Kurs über die Camera obscura gab, kam ich fast zwangsläufig auf die Idee, alles zu vereinen, indem ich das Negativ exakt so lange belichtete wie die Dauer der gesamten Inszenierung. Die Camera obscura ist nicht nur die technisch perfekte Lösung, auch die Parallele zur Guckkastenbühne ist wichtig.

Bei den Theaterfotos ist die lange Belichtung auch ein philosophischer Ansatz, ähnlich wie bei den „Theaters“ von Hiroshi Sugimoto. Aber hier von einer „technischen perfekten Lösung“ zu sprechen finde ich gewagt. Man könnte auch sagen: nichts zu erkennen, alles unscharf…

Technisch heißt ja nicht nur, dass alles scharf und präzise ist, sondern in Bezug auf die auf die Idee die richtige Wahl für das Konzept. Es stimmt auch nicht, dass nichts zu erkennen ist, die Bühnenbilder überlappen sich, die Darsteller werden zu schemenhaften Gestalten. Jeder Moment wurde von der Lochkamera aufgenommen, nur eben teilweise überlagert und somit nicht erkennbar. Und doch sind sie im Grunde vorhanden. Die Frage für mich stellt sich eher, ob es dem entspricht, was dem Zuschauer in Erinnerung bleibt.

Beeindruckend finde ich, dass Du beim Thema Theater die Camera obscura gleich von Beginn an für Auftraggeber einsetzen konntest. Eingeprägt haben sich aber auch freie Projekte wie „Sleeping Sister“. Wie kam es zu dieser Arbeit?

Die erste Camera obscura, die ich baute, testete ich zu Hause, um zu sehen, ob sie dicht ist.
Das erste Foto zeigte mich auf dem Sofa, wie ich eingeschlafen war. Da mit zu dem Zeitpunkt nur wichtig war, ob die Schachtel als Lochkamera funktionierte, legte ich das Negativ zur Seite und machte mir keine Gedanken über das Bild. Erst als es mir Jahre später wieder in die Hände fiel, wurde mir bewusst, dass es sich wie bei den Theaterfotos um eine konzeptionelle Belichtungszeit handelt: Diese entspricht der Dauer des Schlafes. Der Schlaf, das Unbewußte, die Nähe zum Tod…Der Titel bezieht sich auf „Schlafes Bruder“, der wiederum Bezug zur griechischen Mythologie und dem Gott des Schlafes und dessen Bruder, dem Gott des Todes, nimmt. Anfangs habe ich mich beim Schlafen fotografier, wo immer ich auch gerade war. 2013 wohnte ich dann als Artist in Residence in 45 Räumen im „Hotel Bogota“, Berlin. Bis zu dem Zeitpunkt, wo es leider schließen musste.

Bei Deinen Kursen und Workshops steht die Camera obscura ebenfalls im Mittelpunkt. Welche Vorteile bietet die Lochkamera in der Lehre?

Mit der Camera obscura kommen vielerlei Aspekte ins Spiel. Allein einen Raum in eine Camera obscura umzuwandeln, löst Erstaunen aus, vielleicht gerade durch die simple Beschaffenheit. Wann sieht man schon sein Umfeld Kopf stehen? Vielleicht hat es mit der digitalen Entwicklung in der Fotografie zu tun, dass viele gar nicht mehr wissen, wie Optik eigentlich funktioniert? Die Vergangenheit der Fotografie zu kennen kann jedenfalls nicht schaden. Bei den Workshops geht es nicht vorwiegend um die Technik, sondern um die Bilder, die entstehen und die Geschichten, die sie erzählen. Eine Neugier zu erwecken, ein Interesse am Ausprobieren und Spielen, einfach Machen…
Die Camera obscura ist ein vielseitiges Medium und dient hervorragend als Impulsgeber, um eigene Interpretationen und Anwendungen zu entwickeln.

Bei den Theater- und Schlafbildern hat die lange Belichtung eine inhaltliche Entsprechung. Bei anderen Serien leuchtet mir dieser Vorteil nicht ein. Bei der Arbeit „Auf den Sputen von Sebalds Austerlitz“ sehen die Bilder, provozieren formuliert, vor allem unscharf und verwackelt aus. Warum hier die Camera obscura?

„Austerlitz“ ist eine Auftragsarbeit vom „Wapping Project“ in London, die aufgrund der verschwommenen Ästhetik meiner vorhergegangenen Arbeiten entstand. In dem Roman von W.G.Sebald geht es um Zeit und Verlust – eine Reise, um verlorene Erinnerungen aufzudecken und wiederzugewinnen. Der Protagonist „Austerlitz“ ist fiktiv, seine Geschichte basiert aber auf drei wahren Lebensgeschichten von jüdischen Kindern, die 1938/39 mit dem Kindertransport aus Nazi-Deutschland nach England gerettet wurden.
Die Frage nach der Belichtungszeit war natürlich wichtig, da ich bis dahin in der Tat nur konzeptionelle Belichtungszeiten in meinen Serien umsetzte. Nach meiner eigenen Devise „einfach machen“ habe ich als angefangen in London zu fotografieren. Die ersten Ergebnisse waren mir eindeutig zu scharf und erzählten mir selber nichts. Weiter das Buch lesend kam ich dann zu der Passage, in der „Austerlitz“ unter Depressionen leidet, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, nicht schlafen kann und anfängt durch London zu wandern. Seine „London Walks“ brachten mich dann zu der Idee: Das mache ich auch – ich gehe beim fotografieren! So kam ich zu den Ergebnissen, die mir passend erschienen und die den direkten Bezug zum Buch bekamen.
Bis heute finde ich es selber spannend, wie die eigene Arbeit von außen beeinflusst werden kann. Das halte ich sogar für wichtig! Auch wenn man einen Stil für sich entdeckt hat, sollte der doch nicht zur Masche werden, sondern je nach Thema und Geschichte überdacht und überarbeitet werden, um sich so zu entwickeln.

Aber spielt dann bei den Fotografien der „Austerlitz“- Arbeit die Camera obscura noch eine Rolle? Unschärfen, die durch Bewegung entstehen, lassen sich doch auch mit normalen Kameras erzeugen.

Die Camera obscure ist im Laufe der Jahre zu meinem Werkzeug geworden. So wie manche Maler eben Borstenpinsel und andere Rotmarderpinsel nehmen. Ich nutze die Pappbox seit über 25 Jahren, weiß ohne Sucher ungefähr, was für ein Bild entsteht, es ist eine ganz andere Art des Fotografierens. Ich bin mir sicher, dass ich mit einer normalen Kamera (womöglich mit Sucher ;-)) nicht dieselben Ergebnisse erziele.
Durch den Sucher fange ich an, viel gezielter zu suchen und nicht mehr intuitiv dem Bild zu folgen. Ein anderer Aspekt ist die Langzeitbelichtung – anfangs ging das mit digitalen Kameras kaum, ohne dass einem der Sensor eingeschmolzen wäre. Und ein Nebeneffekt: Wer mit Stativ und Kamera in London fotografiert, wird ständig von der Security angesprochen. Mit kleinen Pappboxen ist das bisher zumindest nicht passiert. Was mir selber bei den Langzeitbelichtungen gefällt ist, dass man so nicht gucken kann. Komprimierte Zeit kann man mit bloßem Auge nicht erkennen.

Anna Gripp, Photonews Nr.10/11 Oktober 2019