Die Wirklichkeit besteht nur aus Schatten und Schemen. Das weiss die Lochkamera

Die Fotografin Karen Stuke folgt mit der Camera obscura den Spuren in W. G. Sebalds Roman «Austerlitz».

von Bernd Noack

Wenn es ein Objekt gibt, das die vagen Gefühle und verschwommenen Wirklichkeiten im trügerischen Licht des Bewusstseins zu vereinen versucht, dann ist das die Lochkamera. Sie hält Bilder von einem Jetzt fest, das aus dem tatsächlich gerade Gesehenen Ähnlichkeit und gleichzeitig Fremdheit filtert. Dieses verwirrende Zusammenspiel fand die Berliner Fotografin Karen Stuke, die seit Jahren mit diesen auch Camera obscura genannten Apparaten arbeitet, in einem Roman wieder. So machte sie sich auf den Weg, den Spuren, die der Schriftsteller W. G. Sebald in seinem Roman «Austerlitz» gelegt hatte, zu folgen.

Die denkbar simple, technikfreie Camera obscura ist ein Wunderapparat. Sie holt sich das Licht durch ein winziges Loch und bannt das Motiv, auf das ihr «Objektiv» gerichtet ist, auf das Papier im Bauch ihres unscheinbaren schwarzen Kastens. Ist dabei die Belichtungszeit lang genug, dann verschwinden alle Figuren, die eben noch einen Ort bevölkerten, als hätten sie keinen Platz in dieser Wirklichkeit.

Unsichere Erinnerungen

«Austerlitz» nun, so Stuke, könne man wie eine Serie von Lochkamera-Bildern, wie einen Fotoroman lesen. Die Erinnerungen und Verluste des alten Mannes, der sich und seinem Schicksal auf der Spur ist und doch ständig die Fährte verliert, werden konkret und zerbröseln, sind greifbar und entgleiten, ergeben einen Sinn und entziehen sich der Logik.

Wer er ist, warum es ihn gibt, wie er überlebte? Der durch einen Kindertransport vor den Nazis Gerettete erforscht sein Leben wie eine Geschichte, die vielleicht nicht wahr ist: «Als wäre das Geschehene noch gar nicht geschehen», als geschehe es eben erst in dem Augenblick, in dem wir daran denken.

Der Erzähler im Roman lernt von dem rätselhaften alten Herrn, der sich Austerlitz nennt, dass den Bildern der Vergangenheit, die man in sich trägt, zutiefst zu misstrauen ist, hält sie bald selber für unwirkliche Erscheinungen, für ein «Aufblitzen des Irrealen in der realen Welt».

Dieser Widerspruch hat Karen Stuke bei der wiederholten Lektüre des Romans beunruhigend begleitet: Das Gesehene kann auch das Eingebildete sein – und umgekehrt. Und so hat sie die Orte der Handlung, diese Durchgangsstationen eines Unsteten, aufgesucht, um sich Bilder zu machen von der «Verschlossenheit der Dinge», wie es im Buch einmal heisst. Antwerpen, England, Paris, schliesslich Prag, wo Austerlitz hinter die Umstände seiner Rettung kommt und schliesslich seine Biografie ablegt und zur Verfügung stellt.

Stukes Fotos bebildern den Roman nicht, sie setzen die Fragen, die er aufwirft, in Szenen um, die vernebelt und obskur bleiben, die nur angedeutet und unscharf eine Gegenwart wiedergeben, die mit Vergangenheit, die man nur ahnt, aufgeladen zu sein scheint.

Im Mittelpunkt ihrer Installation (die sie schon in London gezeigt hat und die man gerade in der Kommunalen Galerie in Berlin sehen kann) steht das riesige verwischte Foto, auf dem Kinder eines Hilfstransports zu sehen sind: Im Raum ausgelegte Eisenbahngleise führen auf diese Lager-Szene zu. Der Weg könnte in den Tod weisen, und tatsächlich gibt es parallel dazu eine Aufnahme aus einer Prager Synagoge mit den Namen jüdischer Ermordeter – darunter auch der Name Austerlitz.

Das sind die einzigen festen Fakten, die kühl und ohne Kommentar das wenig Greifbare anbieten, von dem auch Sebald erzählt. Drumherum aber die wie aus einem Tagebuch herausgelösten Fragmente dieser Reise: Stuke arrangiert sie als fotografische Dokumente der Flucht, des Aufbruchs, des ziellosen Irrens zwischen einer nie sicheren Heimat und dem Verschwinden auch aus dem Gedächtnis.

Reisen ins Nichts

Austerlitz deutet ja nur an, wirft Erinnerungsbrocken ins nie abbrechende Gespräch; Karen Stuke nimmt diese Bruchstücke auf, sieht in den Schauplätzen des Romans «die Schatten der Wirklichkeit», die aus dem Nichts hervorkommen. Die kleine Linse ihrer Lochkamera sammelt diese Bruchstücke vergangener Empfindungen und Beunruhigungen, wie sie auch mitten in der Nacht auftauchen und schnell wieder verdunkeln können.

In den Bildern der Fotografin sind das vorbeisausende Landschaften, verzerrte Ahnungen von Treppenstufen und Zimmerinterieurs, bizarre Gebäude und verwackelte Natur, Mauern, die das Schweigen umgeben, ein Friedhof und immer wieder Bahnhöfe, an denen Reisen ins Nichts oder ins Unbekannte beginnen. Reisen freilich wie unter Zwang, von denen nur Augenblicke bleiben, die die Camera obscura mehr verweigert als offenbart, während sie das Versprechen, auch wirklich das Wirkliche zu zeigen, nie gibt, geschweige denn einlöst.

Karen Stukes fotografischer Essay zu W. G. Sebald gleicht jener Beschäftigung mit Geschichte, die, so heisst es in «Austerlitz», eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern sei, auf die wir andauernd starrten, während die Wahrheit irgendwo anders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits, liege. Im Schemenhaften eben, irgendwo zwischen Dunkel und Licht.

Bernd Noack, Neue Zürcher Zeitung, 10.10.2019

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