SLEEPING SISTER

Zeit, relativ.
von Lars Oldenbüttel

Die Nacht vom zweiten auf den dritten Mai 2004 verlangsamte meinen Zeitfluss merklich. Der Sekundenzeiger der Uhr bewegte sich langsamer über das Ziffernblatt, stockte, stand kurz still. Auslöser hierfür war Karen Stuke, die anlässlich einer Theateraufführung im Manoel Theatre, Malta, in kurzen Worten charmant ihr neues Kunstprojekt erläuterte. Eine Arbeit, die die Fotografin und Kommunikationsdesignerin bis heute vorantreibt: mit ihrer Camera obscura hebt sie Zeitdimension auf, relativiert den Zeitbegriff und konfrontiert uns brutal mit der Vergänglichkeit des Seins.

Der Galileische Relativitätsbegriff geht davon aus, dass Geschwindigkeit keine Eigenschaft eines Körpers ist, sondern eine relative Größe zwischen zwei Körpern. Albert Einstein greift diese Idee 1905 auf, erweiterte sie in seiner Speziellen Relativitätstheorie auf alle physikalischen Gesetze und beschreibt in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie (1916) Raum und Zeit als ein untrennbar zusammengehöriges, gekrümmtes Gebilde:  Schwere Objekte krümmen den Raum und verlangsamen damit den Zeitfluss, schnell bewegte Objekte unterliegen einem langsameren Zeitfluss als weniger schnell bewegte.

Raumzeit ist also eine relative, Zeit verstreicht schlicht nicht überall im gleichen Tempo. Und das kann man sogar sehen. Denn Raum, Materie, Körper und Zeit ziehen sich wie ein roter Faden durch das Werk von Karen Stuke und manifestieren sich in ihren Bildern. Als Reflex auf die hektische, auf den Moment fokussierte Arbeit als Theaterfotografin, träumt die Berliner Künstlerin mit ihrer simplen schwarzen Lochschachtel einen eigenen Traum, lässt Raum und Zeit verschmelzen, versammelt flüchtige Momente durch teils stundenlange Belichtungszeiten zu einem einzigen komprimierten Gesamteindruck. Eine Stroboskierung aus hell und dunkel, Bewegung und Stillstand, abstrakter Farbverschmelzung und konkret sichtbarem Objekt.

Der Betrachter wird zum Vojeur, den Blick auf eine eingefrorene, stillstehende Welt gerichtet. Das gilt ganz besonders für die in den letzten Jahren entstandenen Schlafbilder, in denen sich die Fotografin häufig selbst über Stunden ablichtet, uns mit in ihr Schlafzimmer nimmt, vordergründig eine Intimität zulässt und doch der situativen Wehrlosigkeit als Subjekt nie zum Opfer fällt. Denn das Fotoauge hält nur fest, wertet und bewertet nicht, summiert lediglich als akribischer, unbestechlicher Buchhalter die Gesamtheit aller Eindrücke zu einer einzigartigen Bilanz der Zeit. Friedvoll kommen die Szenen zunächst daher und harmonisch. Doch mit jeder weiteren Minute des Betrachtens schleicht sich Unbehagen ein: die Bilder lösen sich in Fragmente auf, setzen sich als fraktale Geometrie im Hirn fest, immer mit dem Bestreben, die zeitlichen Abläufe unter Gesichtspunkten der Logik in eine schlüssige Abfolge zu bringen, stellen unsere Referenzsysteme damit auf eine harte Probe. Kunst ist ein zur Meisterschaft entwickeltes Können, und Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein. Und magisch sind die Arbeiten von Karen Stuke allemal.

(Lars Oldenbüttel, 23.1.2009, www.kulinariker.de)

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